Interview zum Thema Gaze Theory

Das Freiburger Unimagazin UNIcross hat mich zum Thema Gaze Theory interviewt:

Herr Stiglegger, Sie waren in diesem Semester Vertretungsprofessor am Institut für Medienkulturwissenschaft in Freiburg und sind derzeit Privatdozent für Filmwissenschaft an der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Körper- und Gendertheorien und Sie beschäftigen sich mit verschiedenen Blickwinkeln in Filmen. Ein bekanntes Modell ist der Male Gaze. Was ist Ihre Definition des Begriffes?

Der Male Gaze kritisierte ursprünglich die visuellen Blickstrategien im klassischen Hollywood Kino. Bei diesen Blickstrategien wird der Körper, vor allem der von Frauen, auf eine Weise objektifiziert und als Objekt der Schaulust inszeniert. Das kann aber auch mit männlichen Schauspielern gemacht werden, wie zum Beispiel Errol Flynn als männliches Sexsymbol. Dabei ist die Objektifizierung ein aktiver Prozess, um etwas zum passiven Objekt zu machen, das angeschaut wird. Diese Definition des Körpers als Objekt der Schaulust ist im Grunde mit dem Male Gaze verbunden geblieben.

Weiterhin steckt in dem Begriff Male Gaze das Männliche, also eine symbolische Zuschreibung für etwas aktiv männliches. Dieses wird als dominant gesehen, während das Angeblickte, implizit weiblich ist. Es handelt sich also um eine Dichotomie dieser Gegensätze: männlich – weiblich.

Woher kommt das Konzept des Male Gaze ursprünglich?

Der Male Gaze basiert auf einem Text der Filmwissenschaftlerin Laura Mulvey aus dem Jahr 1975. Bei dem Text ging es ihr darum, eine Kritik an Blickstrategien des klassischen Hollywoodkinos zwischen 1930 und 1960 zu üben. Von daher ist dieser Begriff nach ihr sehr stark historisiert. Der Text ist psychoanalytisch und argumentiert massiv mit Kastrationsangst und solchen Konzepten der Psychoanalyse. Beide Aspekte, nämlich die Historisierung, also die Kritik an einem klassischen Hollywood-Konzept bis 1975, und die psychoanalytische Argumentation, die so heute wahrscheinlich nicht mehr verwendet würde, machen den Text selbst historisch.
Dadurch hat der Begriff heute aber nicht weniger Bedeutung, denn Laura Mulveys Text war ein Gründungsimpuls der feministischen Filmtheorie. Der Text und auch der Begriff Male Gaze haben daher viel ausgelöst.

Ist dieses Konzept heute noch aktuell?

Laura Mulvey kritisierte das klassische Hollywood Kino mit seinen visuellen Blickstrategien, mit einem dichotomen dualen Modell von männlich und weiblich. Dies wirft aktuell einige Probleme auf, weil wir uns mittlerweile in einer Phase des intersektionalen Feminismus befinden. Das bedeutet, dass der Begriff des Male Gaze anders differenziert werden muss, um ihn wieder fruchtbar zu machen.

Der Begriff wird aktuell benutzt um die sexualisierende objektifizierende Darstellung in Medien, Werbung und Filmen weiter zu kritisieren. Aber durch die Weiterentwicklung der Medien und Bildsprache reicht eine kritische Blicktheorie nicht aus. Mein Ansatz ist, dass es sehr viele unterschiedliche Blickstrategien gibt, wie den Queer oder Female Gaze. Diese Konzepte sind vergleichbar mit dem, was mit dem Male Gaze kritisiert wurde, den ich mittlerweile aber als objektifizierenden Blick bezeichnen würde.

Dann gibt es auch einen Animal Gaze, also wie Tiere auf die Welt blicken, wie in dem Film „Cow“ von Andrea Arnold oder „EO“. Den Child Gaze kann man in Filmen wie „Petite Maman“ von Céline Sciamma sehen. Man müsste all diese Blickstrategien im Grunde als ein Gesamtkonzept neuer Blicktheorien begreifen und das wäre der aktuelle Stand, wie ich ihn beschreiben würde.

Welche Auswirkungen kann der Male Gaze auf Frauen haben?

Der Male Gaze als objektifizierender Blick gewöhnt das Publikum an eine bestimmte Perspektive auf die Welt und auf Körper, wodurch sich das Publikum diesen Blick bewusst oder unbewusst aneignet. Laura Mulvey verweist darauf, dass dies für alle gilt, die denselben Film oder denselben Werbespot sehen. Natürlich zieht man daraus unterschiedliche Schlüsse für sich selbst. Das bedeutet einerseits, dass cis-männliche Betrachter erlernen, dass ein weiblicher Körper so anzusehen und als Objekt zu begreifen ist. Andererseits bedeutet es, dass eine cis-weibliche Person begreift: So werde ich angeblickt, also muss ich mich dem Blick entsprechend verhalten.

Von daher haben wir hier tatsächlich Machtstrukturen, also die Unterordnung unter den Blick. Letztendlich ist die Inszenierung eines Blicks in den Medien ein aktiver Vorgang, während das Publikum dem immer passiv ausgeliefert ist. Dann bleibt uns nur übrig, aktiv oder passiv eigene Schlüsse daraus zu ziehen. Kontrollieren können wir das nur, indem wir diese Medien bewusst nicht konsumieren.

In der Kritik von Filmen und der Kunst ist der Male Gaze ein weit verbreitetes Phänomen und häufig diskutiert. Warum wird aber über den Einfluss dieses Blicks auf die Selbstreflexion von Frauen im gesamtgesellschaftlichen Kontext so wenig gesprochen?

Wir haben es hier mit einer theoretischen Perspektive zu tun, die natürlich für einen Großteil des Publikums zunächst abstrakt erscheint. Wir sind alle früher oder später damit konfrontiert, aber man kann bei den meisten Menschen nicht erwarten, dass die Beschäftigung auf theoretische Weise im Zentrum der Reflexion steht.

Den aktiven Blick richten und das passive Angeblicktwerden reflektieren die Machtverhältnisse und Machtstrukturen der Gesellschaft, was Medien gerne verschleiern. Gerade Werbestrategien arbeiten bewusst und aktiv mit diesen Überrumpelungs-, Manipulations- und Verführungsstrategien. Deswegen ist es normal, dass diese Dinge verschwiegen werden, damit das Publikum passiv und diese Machtstrukturen weiterhin aufrechtFerhalten werden. Der Großteil des Publikums reflektiert TikTok oder Instagram-Videos nicht, sondern liefert sich diesen komplett aus und kann dadurch manipuliert und verführt werden.

Was sind gesellschaftliche Folgen des Male Gaze?

Eine Folge wäre, dass gerade Jugendliche im Internet nicht mehr wissen, dass sie manipuliert werden, denn eine geschickte mediale Inszenierung verwischt ihre Mechanismen der Manipulation. Der Prozess der Manipulation läuft unbewusst ab und wird bewusst verschleiert. Daher braucht es eine enorme Medienkompetenz, die durch eine medienwissenschaftliche Ausbildung anerzogen werden muss.

Die größere Gefahr ist jedoch nicht, den objektifizierenden Blick nicht zu erkennen, sondern diesen als Grundstatus anzuerkennen und sich diesem Blick komplett zu unterwerfen. Damit akzeptiert man sich selbst als ein Objekt der Schaulust und läuft Gefahr, sich demnach zu gestalten, zu agieren und sich machtlos, ungeschützt und passiv zu machen. Je bewusster und aktiver man damit umgeht, desto mehr Selbstbestimmtheit und damit verbundenes Empowerment gewinnt man.

Mein Plädoyer ist also immer, sich wehrhaft zu machen, indem man sich informiert, bildet und Dinge durchschaut. Dazu dienen eigentlich Ausbildung und Hochschule als die beste Waffe.

Als feministischer Gegenentwurf zum Male Gaze wird der Female Gaze immer bekannter. Was steckt hinter dem Begriff des Female Gaze?

Der Begriff Female Gaze wird oft politisch verwendet, vor allem aus feministischen Perspektiven. Der erste Ansatz von Laura Mulvey war es, den Blick auf den Körper zu vermeiden, also den Körper nicht normativ, sondern realistisch zu zeigen. Diesen hat sie aber nicht Female Gaze genannt, auch wenn es in ihren Filmen um Berichte aus dem Alltag von Frauen geht. Dieser Begriff trat zum Beispiel bei Céline Sciamma auf, der Regisseurin von „Porträt einer jungen Frau in Flammen“, und kreiert einen Wechsel dieses Blicks vom Angeblickten zum aktiv blickenden Subjekt. Der feministische Film thematisiert weibliches Begehren und weibliches Empfinden. Aber es ist ein anderes Phänomen als das Kritikmodell des Male Gaze.

Die Definitionen des Male Gaze und Female Gaze greifen zu kurz und sind politisch identitär gedacht. Der Female Gaze ist ein geeigneter Begriff, um damit zu kämpfen, aber dabei erzielt man einen Rückschritt, denn dann macht man wieder eine Dichotomie männlich – weiblich auf.

Welcher Gaze wird aktuell in Filmen häufiger repräsentiert?

Diese Frage kann an unterschiedlichen Beispielen besprochen werden: Der Film „Wunderschön“ von Carolin Herfurt beispielsweise, bespricht den weiblichen Körper als Objekt und Fluch. Hier wird die Nichtvereinbarkeit mit der Alltagsforderung, gleichzeitig Mutter und berufstätig zu sein, und anderen Anforderungen der Gesellschaft zu entsprechen, gezeigt. Dagegen ist „Chantal im Märchenland“ affirmativ und verwendet ganz klare objektifizierende Blickstrategien, welche wir auch unbewusst aufnehmen. In den deutschen Fernsehkrimis „Polizeiruf 101“ oder „Tatort“ ist mittlerweile ein Bewusstsein für diese Blickstrategien angekommen durch eine neue Form des Castings mit anderen Körpertypen und Ethnizitäten.

Im Hollywood Kino, wie bei „Fast and the Furious“ Teil 10, haben wir noch Affirmations-Blicke, bei denen der männliche Körper muskulös und der weibliche Körper sportiv und schlank sein muss. Auch der Film „Barbie“, der oft als feministischer Film gelesen wird, führt nirgendwo hin, weil es keine wirkliche konstruktive Veränderung der Blickstrategien gibt. Die Besetzung ist 100-prozentig affirmativ, denn Margot Robbie ist einfach eine normativ schöne Frau und der Film wirft in keiner Weise einen dekonstruktiven Blick darauf. Genauso „Wonder Woman“ mit Gal Gadot, der natürlich eine empowerte Superheldin im Zentrum hat, die aber durchaus sexualisiert inszeniert wird.

Löst der „Female Gaze“ als subjektivierender Blick ähnliche Probleme in der Gesellschaft aus, wie der „Male Gaze“ als objektifizierender Blick?

Um Blickstrategien benennen zu können, brauchen wir erstmal Analysemittel, wie Blickwinkel, Licht oder Bildausschnitt. Wir bekommen den Körper immer so ins Licht gerückt, dass wir ihn als normativ schön wahrnehmen, und das hat sich gar nicht so stark verändert.

In einigen Bereichen gibt es aber tatsächlich eine Tendenz, klassische oder affirmative Blickstrategien aufzubrechen, aber nicht in allen und nicht immer konsequent. Das Sich-Bewusstwerden der Blickstrategien in den Medien hat auf jeden Fall eine gesellschaftliche Auswirkung. Wenn man einmal reflektiert hat, wie man wahrgenommen wird und wahrnimmt, kann man dieses Bewusstsein nicht mehr ablegen und man wird dieses auch im Alltag anders einsetzen.

Die Reflexion über Gaze-Theorie kann zu einer Veränderung von Machtverhältnissen und einem Hinterfragen dieser führen. Dafür ist es wichtig, diese Thematik auch akademisch zu diskutieren und zu unterrichten.

Ist es möglich, Film oder Gesellschaft so zu gestalten, dass sie völlig frei von einem bestimmten Gaze ist?

Es ist in Filmen unmöglich, keinen Blick zu konstruieren. Sobald ich eine Kamera auf eine Person oder ein Lebewesen positioniere, eine Lichtstimmung auswähle und selbst erzeuge, habe ich einen Blick konstruiert. Wenn man dieses Arrangement mit den anderen Einstellungen kontextualisiert, dann haben wir eine Dramaturgie mit einer Erzählhaltung. Und dann kann man wieder fragen, wer da eigentlich erzählt. Also haben wir keine Chance in audiovisuellen Inszenierungen der Blickinszenierung zu entgehen. Wir können nur bewusst damit umgehen und überlegen: „Was möchte ich kritisieren, was möchte ich affirmieren und welchen Effekt möchte ich damit erzielen?“

Ist es aber möglich, durch verschiedene Perspektiven, ohne dass eine dominiert, eine neutrale Perspektive im Film zu schaffen?

Man kann nicht wirklich neutral sein, wenn man eine Kamera aufstellt, denn selbst eine Überwachungskamera hat einen Überwachungsblick, der ein Blick der ultimativen Kontrolle ist. Das man verschiedene Perspektiven zeigt, würde ich als Multiperspektive bezeichnen. Man kann unterschiedliche Perspektiven in einem Film einnehmen und jeder Figur eine Perspektive und einen Raum geben.

Im klassischen Hollywood ist dies eine grundsätzliche Strategie, weil die Filme möglichst viele Leute ansprechen und viel Geld einspielen sollen. Auf alternativen Streamingplattformen wie MUBI sind Filme wie „The Substance“, „Queer“ mit Daniel Craig oder der Film „April“ von Dea Kulumbegaschwili verfügbar, die ganz andere Blickstrategien haben. Auch in der aktuellen Netflix-Serie „Adolescence“ gibt es eine neutrale Tendenz durch eine in Echtzeit anwesende Kamera, und ohne dass geschnitten wird. Das ist die erste Entscheidung gegen die klassischen Mechanismen, um einige Blickstrategien konstruktiv zu vermeiden und ohne auf Körperteile zu fokussieren.

Was können Frauen konkret tun, um sich dem Einfluss des Male Gaze zu entziehen, beziehungsweise was können Personen tun, um sich dem Einfluss eines bestimmten Gaze zu entziehen?

Zunächst muss man verstehen, wie Filme funktionieren, um zu verstehen, wie diese inszeniert werden und Zuschauer manipulieren. Wenn man sich darüber bewusst wird und gelernt hat, filmische Mittel analytisch zu betrachten, sieht man die mediale Welt komplett anders. Das analysieren zu können, hilft bei der Sensibilisierung und die Konsequenzen für die Wahrnehmung des Körpers zu verstehen.

Körper sollen ideal erscheinen. Dem kann im Alltag aber niemand entsprechen, denn Schauspieler*innen bekommen Millionen, um an ihrem Aussehen zu arbeiten. Diese Idealisierung ist ihr Beruf, also das Sich-selbst-zum-Objekt-machen. Und diese Einsicht würde meines Erachtens dazu beitragen, sich selbst realistischer zu betrachten. Wenn man das begriffen hat, haben wir andere Ausgangspunkte und messen uns nicht mehr an diesen.

Was ist für Sie Female* Empowerment?

Empowerment setzt voraus, dass ich Machtstrukturen durchschaue, diese analysieren und entlarven kann. Ich denke, man muss die Blickstrategien durchschauen, damit man selbst bewusster damit umgeht. Dann habe ich mehr Kontrolle darüber, wie ich wahrgenommen werde und wie ich selbst wahrnehme, und das ist Empowerment. Daher ist Empowerment immer das Resultat eines zunächst analytischen und dann aktiv gestaltenden langfristigem Prozesses der eigenständigen Einsicht und Gestaltung.

Der Entwicklungsstand in der Medienkulturwissenschaft ist heute auf keinem schlechten Stand, er ist aber noch nicht an einem Ende. Wir sind mitten in einem Prozess, den wir aktiv weiterverfolgen müssen. So ist auch Empowerment im Fluss und soll das auch weiter bleiben.

Quelle:

„Mehr als nur ein Männerblick“ » uniCROSS

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